Heute sind es neue reformpädagogische Ansätze, die die öffentliche Bildungsdiskussion bestimmen. 2012 wurde in Berlin die Initiative “Schule im Aufbruch - Breites Bündnis für eine neue Lernkultur” gegründet. Die demonstrative Unterstützung von 250 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Forschung, Bildung, Unternehmen und Politik, Kirchen, Gewerkschaften und Kultur, Pädagogen und Schülern ist ein Indikator für die Wichtigkeit des Themas.
Einer der Initiatoren des Aufrufs, der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther, formuliert die Ziele der neuen Reformbewegung so:
„Unser Bündnis für eine neue Lernkultur lebt aus der Überzeugung, dass nur mit Begeisterung nachhaltig gelernt werden kann. Unsere Schulen müssten in Biotope des Lernens verwandelt werden, in denen junge Menschen inspiriert und begeistert Neugier entfalten und verantwortungsbewusst ihre Welt gestalten. Lernen muss, befreit von hierarchischem Belehren, zu einem kreativen Austausch unter Lernenden werden. Nicht auswendig gelerntes, sondern selbständig erworbenes Wissen und Können ist das, worauf es für die Gestalter des 21. Jahrhundert ankommt“.
Der Grad der Unzufriedenheit mit Schule und den an Bildung Beteiligten zeigt sich an den Einschaltquoten polemisierender “Bildungsgurus” wie die des Fernsehphilosophen David Precht, oder an den sensationellen Auflagen des berüchtigten “Lehrerhasserbuchs” der Journalistin und Buchautorin Gerlinde Ungemuth, alias Lotte Kühn. In unkritischer Einseitigkeit werden die Pädagogen und deren behauptete Unfähigkeit als Schuldige am Schulversagen der Kinder ausgemacht.
Mit Sätzen wie : „Im Grunde unseres Herzens eint uns über alle Schichten und jedes Alter hinweg der Glaube an die Unfähigkeit des Lehrers“, greift die Journalistin und Mutter schulpflichtiger Kinder tief in die Klischeekiste und erntet für ein unsägliches Buch eine Bestsellerauflage.
Die selbsternannten Schulreformer und Welterklärer werfen der herkömmlichen Schulbildung pauschal Totalversagen vor, fordern “Lernlust statt Schulfrust” und entwerfen eine Vision von Schule, in der Kinder selbstbestimmt und selbstorganisiert lernen. Unter der Prämisse “Kinder sind kleine Genies” mobilisieren sie Eltern zum aktiven Widerstand gegen eine die Lernbegierde und Kreativität der Schüler erstickende Institution Schule. Sie propagieren eine Graswurzelrevolution an deren Ende eine offene Schule stehen soll, die nicht mehr im 45 Minuten Takt überholte Lerninhalte aus dem 20. Jahrhundert vermittelt, und die ihren Schülern nicht länger Verhaltensmuster anerzieht, die auf “Anpassung und Funktionieren” hinauslaufen. Ihr Fazit: Abschaffung von Lehrplänen und Gymnasien, neue Fächer mit programmatischen Namen wie “Herausforderung” oder “Verantwortung” und die Transformation der Lehrer in “Potentialentfaltungscoaches”.
Der Sofaphilosoph David Precht formuliert es so: “Wir brauchen andere Lehrer, die aus anderen Motiven ihren Beruf ergreifen. Wir brauchen ganz andere Lehrpläne. Wir brauchen andere Lernmethoden. [..] Wir brauchen keine Bildungsreformen, wir brauchen eine Bildungsrevolution”
Auf der Suche nach einer Antwort darauf, wie denn das vermeintlich schwerkranke Soziotop Schule sich in eine Art soziales Paradies mit pädagogischen Wellnessprogramm und mit individuellen Entfaltungs- und Selbstfindungsgarantien entwickeln kann, darüber erfährt man bei den Talkshowkritikern wenig Konkretes.
Das wäre auch schwierig! Zum einen deshalb, weil es die Schule, wie sie hier in der Kritik steht, genau so wenig gibt wie die bösen Karikaturen des Lehrers, die sich bestenfalls aus den individuellen Schulerfahrungen der selbsternannten Schulkritiker und ihrer Anhänger erklären lassen.
Aller Polemik zum Trotz zeigt die aktuelle Mediendebatte zum Thema Schule aber eine Tatsache ganz deutlich: Der traditionelle Lernbegriff mit seinem festen, geschlossenen Wissenskanon, bei dem Lernergebnisse an abprüfbarer Reproduktion gemessen werden können, beginnt sich aufzulösen. An seine Stelle treten Schlüsselqualifikationen wie kreatives Denken, Flexibilität, Problemlösungskompetenz, Selbstständigkeit, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Sozialkompetenz, Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, Kritikfähigkeit und Beurteilungskompetenz.
Zum Bild: Die vier Schätze des Gelehrtenzimmers umfassen alles, was ein Intellektueller in der chinesischen Kaiserzeit benötigte: Pinsel, Tusche, Reibstein und Papier
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